Nicht Heilige sondern Herausforderin

Wie seid Ihr darauf gekommen, Sophie Scholl als Namensgeberin für die Gemeinde zu nehmen?

Für die neue Gemeinde, die aus dem Zusammenschluss von Offenbarung und Rogate entstanden ist, wollten wir einen neuen Namen und keinen Doppelnamen aus den alten Gemeindenamen, weil dadurch immer der Eindruck zweier Teile geblieben wäre. Viele Gemeindenamen sind in einem Großraum wie München aber schon vergeben. Also waren wir lange auf der Suche nach einem neuen, geeigneten Namen. In einer Sitzung, in der wir kaum noch mit einem solchen gerechnet haben, meinte ein Mitglied des Kirchenvorstands: „Wie wäre es mit Sophie Scholl?“

Bevor wir uns endgültig dafür entschieden haben, haben wir gründlich recherchiert. Viele Schulen sind nach ihr benannt, Straßen und Plätze - aber eine Kirchengemeinde? Nach zwei Wochen, die von eingehender Lektüre und Gesprächen mit Historikern geprägt waren, haben wir uns im Kirchenvorstand dann eindeutig für diesen Namen ausgesprochen. Vor uns gab es bereits eine Sophie-Scholl-Kirchengemeinde in Schwäbisch Hall, mit der wir uns auch vor der Namensgebung ausgetauscht haben. Mittlerweile ist sie unsere Partnergemeinde.

Welche Haltungen, Überzeugungen, Handlungen von Sophie Scholl waren ausschlaggebend, nach ihr die Gemeinde zu benennen?

Wer sich näher mit ihren Aufzeichnungen und Briefwechseln beschäftigt, entdeckt eine junge Frau, die auf Gottsuche ist und die auf der Grundlage ihres Glaubens versucht hat, einen vor Gott und sich verantwortbaren Weg zu gehen. Sophie Scholl war ja nicht von Anfang an Widerstandskämpferin. Mit 12 Jahren trat sie dem „Jungmädelbund“ bei und war später Gruppenführerin im „Bund Deutscher Mädel“.

Ihre Tagebücher und Briefe zeigen ihre wachsenden Zweifel, ihre Selbstreflexionen und den Wandel ihrer Überzeugungen. Besonders die Aufzeichnungen während ihrer Zeit im Reichsarbeitsdienst belegen ihre Beschäftigung mit christlicher Literatur und ihre allmähliche Abkehr vom Nationalsozialismus.

Gab es Widerstände oder Bedenken?

Widerstände nicht, aber Anfragen, auch kritische. Welche Konsequenzen bringt dieser Gemeindename mit sich? Ist er zu politisch? Aber das ist ja auch das Gute an einem solchen Gemeindenamen, dass er zum Nachdenken, zu Gesprächen und zur Diskussion anregt.

Inwiefern ist Sophie Scholl inspirierend für eine christliche Gemeinde? Ist sie eine moderne Heilige?

Die Benennung der Kirchengemeinde nach Sophie Scholl verdeutlicht, dass unser Glaube uns auch in unserem Handeln herausfordert. Inge Aicher-Scholl hat über ihre Schwester geäußert: „Gelebtes Christentum, wie sie es bei den Freunden gesehen hat, überzeugte sie mehr als noch so raffinierte theologische Spekulationen“ und „Das Suchen nach Möglichkeiten, auch in kleinsten Dingen, war für meine Schwester Sophie außerordentlich wichtig. Die Stelle aus dem Jakobusbrief ´Seid Täter des Wortes nicht Hörer allein!` war eine entscheidende Maxime.“ Glaube hat eine tätige, in die Gesellschaft hineinwirkende Funktion und Aufgabe.

Zur Frage nach Sophie Scholl als moderner Heiliger: Wir denken, sie ist oft verklärt worden, so haben Fotos von ihr etwas ikonenhaftes bekommen. Kurz nach der Benennung haben wir auch eine Mail erhalten: „Haben Evangelische jetzt auch schon ihre Heiligen?“ In einer neu erschienenen Biographie haben wir eine unseres Erachtens treffende Einschätzung gefunden: „Sophie Scholl ist zu einem Klischee für das Gute und Einfache geworden, eine Heilige ohne negative Züge. Dabei ist die Wirklichkeit ihres Widerstands komplex und sie selbst voller charakterlicher Widersprüche und Ungereimtheiten. Sicher ist nur: Sie handelte - wie auch ihr Bruder - aus ethisch-religiöser Überzeugung.“ (Robert M. Zoske: Sophie Scholl: Es reut mich nichts. Porträt einer Widerständigen, Berlin 2020, S. 300)

Nachdem Sophie Scholl die Namenspatronin geworden ist: Hat das etwas in der Gemeinde angestoßen? Gibt es da etwas von ihr, was sich nun in der Gemeinde entfaltet?

Wir sind jetzt nicht über Nacht zu einer ausgesprochen politischen Gemeinde geworden. Vom Kirchenvorstand her geht es uns darum, nicht einfach Jahrestage zu begehen, sondern uns zum Nachdenken herausfordern zu lassen. So wird es jedes Jahr punktuell neben der ganz „normalen“ Gemeindearbeit thematische Angebote geben, z.B. eine Lesung, einen Vortrag oder eine Podiumsdiskussion. Anlässlich des 100. Geburtstages von Sophie Scholl am 9. Mai wird Robert M. Zoske am 21. Mai aus seiner neu erschienenen Sophie-Scholl-Biographie lesen. Mit der Evangelischen Jugend München, die ja in der Rogatekirche ihren Sitz hat, kooperieren wir im Rahmen des „Weiße Rose Wochenendes“. Auch in unserer KonfirmandInnen-Arbeit wird der Gemeindename reflektiert.

Pfarrer Felix Breitling und Pfarrerin Verena Übler