Mensch werden mit Christus

Die Wahrheit kennen

Sie hatte eben erst begonnen, Biologie und Philosophie in München zu studieren. Wer zu studieren beginnt, probiert Gedanken aus und enthält sich noch entschiedener Urteile. Dazu hatte Sophie Scholl keine Zeit. Hitler herrschte und führte Krieg. Mit ihrem Bruder und seinen Freunden sah sie sich gezwungen, die Verbrechen des Regimes zu benennen. Dazu bedurfte es einer klaren Haltung und der Überzeugung, die Wahrheit in einem umfassenderen Sinn zu kennen. Die Flugblätter der „Weißen Rose“ bezeugen das eindrücklich – und die Verhörprotokolle der Gestapo und des Volksgerichtshofs. Sie zeigen, wie Sophie Scholl den Beschimpfungen Freislers standhielt. Welchen Weg hat sie bis zu diesem erstaunlichen Auftritt zurückgelegt?

Liebesbriefe

Als 16jährige beginnt sie einen Briefwechsel mit dem vier Jahre älteren Fritz Hartnagel. Er war Offizier in Augsburg, während Sophie Scholl in Ulm noch zur Schule ging. Die Briefe überbrücken die Zeit zwischen den Treffen. Es sind Liebesbriefe. Aber in ihnen zeigt Sophie Scholl ihre hohen moralischen Erwartungen an sich selbst. Sie denkt intensiv darüber nach, wie man ein menschlicher Mensch wird. In den Briefen setzt sie Gespräche dazu fort und formuliert Grundsätzliches. Nationalsozialismus und Krieg tun das ihre, dass Sophie Scholl eine Haltung einnimmt. Wie weit ist sie schon als 19jährige! An einigen Stellen wird deutlich, wie wichtig der christliche Glaube für sie ist, um ein Mensch mit Haltung zu werden (Brief vom 29.5.1940):

Manchmal bin ich versucht, die Menschheit als eine Hautkrankheit der Erde zu betrachten. Aber nur manchmal, wenn […] die Menschen so groß vor mir stehen, die schlimmer als Tiere sind. Aber im Grunde kommt es ja nur darauf an, ob wir bestehen, ob wir uns halten können in der Masse, die nach nichts anderem als nach Nutzen trachtet. Denen, um ihr Ziel zu erreichen, jedes Mittel recht ist. […] Wahrscheinlich hat es bisher nur ein Mensch fertiggebracht, ganz gerade den Weg zu Gott zu gehen. Aber wer sucht den heute noch?

Auf geradem Weg

Als Sophie Scholl das schreibt, herrscht Krieg. Menschen bringen sich um. Das erschüttert sie und macht es für sie dringlich, Haltung zu bewahren. Nur einen Menschen sieht sie, der auf geradem Weg zu Gott geht: Christus. Er ist ihr offensichtlich Vorbild, selbst ein geradliniger Mensch zu werden – und nicht moralisch stumpf zu sein, wie sie es massenhaft um sich beobachtet. Es beschäftigt sie, dass ihr Freund Soldat ist. Ob er nicht Zugeständnisse machen muss und hehre Prinzipien des Anstands verletzt? Dazu schreibt sie am 22.6.1940:

Der Mensch soll ja nicht, weil alle Dinge zwiespältig sind, deshalb auch zwiespältig sein. Diese Meinung trifft man aber immer und überall, weil wir hineingestellt sind in diese zwiespältige Welt […] Und seltsamerweise findet man diese ganz und gar unchristliche Anschauung gerade bei den sogenannten Christen. Wie könnte man da von einem Schicksal erwarten, dass es einer gerechten Sache den Sieg gebe, da sich kaum einer findet, der sich ungeteilt einer gerechten Sache opfert.

Die „sogenannten Christen“

Nicht nur zur „Masse“ (s.o.), auch zu den Christen hält sie kritisch Abstand. Sie sind ihr zu uneindeutig, zwiespältig, nicht bereit, kompromisslos für die gerechte Sache einzustehen, ja sogar Opfer zu bringen. Hört man das vor dem Hintergrund der Verschwörung, an der sie sich beteiligen wird, kann man nur staunen, wie konsequent sie selbst zu ihrer Überzeugung stehen wird. Christen sollen für die gerechte Sache eintreten und Opfer bringen. Im Hintergrund dieser Erwartung steht offensichtlich Christus selbst.

1942 berichtet Fritz Hartnagel vom Grauen des Krieges, an dem er inzwischen in Russland beteiligt ist. Über Wochen schildert er Sophie Scholl das Elend und die Öde. Im November schreibt sie ihm:

Ja könntest Du dort einmal in eine Kirche und am Abendmahl teilnehmen. Welche Trost- und Kraftquelle könnte Dir das sein. Denn gegen die Dürre des Herzens hilft nur das Gebet, und sei es noch so arm und klein. […] Wir müssen beten, und für einander beten, und wärest Du hier, ich wollte die Hände mit Dir falten, denn wir sind arme Kinder, schwache Sünder. O Fritz, wenn ich Dir jetzt nichts anderes schreiben kann, so doch bloß deshalb, weil es erschreckend lächerlich ist, wenn ein Versinkender, anstatt um Hilfe zu rufen, beginnt über irgendein wissenschaftliches, philosophisches oder theologisches Thema sich auszulassen, dieweil die unheimlichen Schlingarme der Wesen auf dem Meeresgrunde ihm Beine und Arme umklammern, und die Wogen über ihm zusammenschlagen; bloß deshalb, weil ich Angst in mir habe und nichts als Angst und mich nur nach dem sehne, der mir diese Angst abnimmt.

Ich bin Gott noch so ferne, dass ich ihn nicht einmal beim Gebet spüre. Ja manchmal, wenn ich den Namen Gott ausspreche, will ich in ein Nichts versinken. Das ist nicht etwa schrecklich, oder schwindelerregend, es ist gar nicht – und das ist noch viel entsetzlicher. Doch hilft dagegen nur das Gebet, und wenn in mir noch so viele Teufel rasen, ich will mich an das Seil klammern, das mir Gott in Jesus Christus zugeworfen hat, und wenn ich es nicht mehr in meinen erstarrten Händen fühle.

Gebetskampf

Sophie Scholl schildert ihre persönliche Gebetspraxis: Gott nicht zu spüren und doch zu beten, sich an Jesus Christus zu klammern, auch wenn das Gebet nicht zum ersehnten Gottesgefühl führt. Andere würden jetzt mit dem Beten aufhören. Sophie Scholl nicht. Ihr Gebet ist ein Ort der Wahrhaftigkeit: Hier gesteht sie ein, ein schwacher Sünder zu sein, ein armes Kind, das Angst hat. Noch wichtiger: Das Gebet ist ein Ort des „Dennoch“. In ihm widersteht sie den Widrigkeiten, ohne dass die verschwinden. Sie erhofft sich vom Gebet Hilfe und Trost und dass Gott und Christus die Angst nehmen. Ist für dieses Gebetsringen nicht unausgesprochen Jesu Gebet in Gethsemane das Vorbild?

Private Gedanken einer jungen Frau im geschützten Raum von Liebesbriefen – und doch viel mehr, weil Sophie Scholl sich selbst an sie halten wird bis in die Verhöre und den Prozess hinein, wo sie gefasst und charakterstark ihr Opfer bringt für die gerechte Sache.

Pfarrer Sebastian Degkwitz

Ich danke Kirchenrat Dr. Björn Mensing, Kirchenhistoriker und Pfarrer an der Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Er hat mir Quellen und historische Hinweise für diesen Artikel zur Verfügung gestellt.