Rabbiner Steven Langnas grüßt die Gemeinde

Liebe Freunde! Multidimensional, vielseitig, turbulent, tiefsinnig, langjährig und symbiotisch sind nur einige Begriffe, die wir verwenden können, um 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu beschreiben. 1700 Jahre, die dokumentiert sind. Gemäß alter Überlieferungen gab es eine jüdische Präsenz hier in Deutschland schon lange vorher, die aber im Nebel der Zeit verschleiert bleibt.

In der rabbinischen Literatur wird Deutschland als „Erez (das Land) Aschkenas“ bezeichnet. Die ersten jüdischen Siedlungen am Rhein wie Speyer, Worms, Mainz, Köln, Frankfurt, sind die Wiege des aschkenasischen, d.h. deutschen Judentums. Bis zum heutigen Tag spricht man in der ganzen jüdischen Welt über aschkenasische Juden, aschkenasische Gebetsriten, aschkenasische Melodien, aschkenasisches Essen und aschkenasische Bräuche. Alle diese Elemente des jüdischen Lebens entstanden hier in Deutschland, teilweise durch eine tiefe Symbiose zwischen dem Jüdischen und dem Deutschen. Eine Symbiose, die sich in fast allen Aspekten des Lebens zeigt: kulinarisch, sprachlich, religiös wie auch kulturell. Als Beispiel sei auf die Vielfalt von hebräischen und jiddischen Worten verwiesen, die die deutsche Sprache prägen: Malochen, Ganove, Schmiere stehen, Tohuwabohu, Schlamassel, und „Guten Rutsch!“, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig gibt es eine jüdische Sprache: das Jiddisch, das manche sogar als eine beinahe heilige Sprache betrachten. Wir dürfen nicht vergessen: Das Jiddische, auch Jüdisch-Deutsch genannt, besteht zu nicht weniger als 75% aus Mittelhochdeutsch!

Die Hauptauseinandersetzungen im 19 Jahrhundert zwischen den innerjüdischen Strömungen der Orthodoxen, Konservativen und Liberalen – Strömungen, die die heutige jüdische Welt immer noch prägen – fanden vor allem hier auf deutschem Boden statt.

Darüber hinaus haben jüdische Bürger die deutsche Gesellschaft in allen möglichen Bereichen entscheidend mitgeprägt: Was wäre die Wissenschaft ohne Einstein, die Musik ohne Mendelssohn, die Literatur ohne Heine und die Medizin ohne Ehrlich? Undenkbar!

Trotzdem: Immer wieder Antisemitismus, immer wieder Judenhass, immer wieder alle möglichen Diskriminierungen. Dieser Negativismus gegenüber den Juden in Deutschland hat den glühenden Patriotismus deutscher Juden nicht verhindert. 1870 wie auch 1914 bis 1918 haben Juden mit Herz und Seele für Kaiser und Vaterland gekämpft. Zwanzig Jahre später haben die Eisernen Kreuze, die so viele jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg verliehen bekommen hatten, sie nicht gerettet, als Hitler an die Macht kam.

Nach dem allertiefsten Tiefpunkt der Jahre des Nationalsozialismus, als alle dachten, das jüdische Leben in Deutschland sei zu Ende, ist es nicht weniger als ein großes Wunder, dass allen Widrigkeiten zum Trotz jüdisches Leben hier wieder etabliert wurde.

Aber jetzt, nach Jahrzehnten der Entwicklung, Entfaltung und Versöhnung, ist es erschreckend und (ganz höflich untertrieben:) beunruhigend, dass Antisemitismus und Gewalt gegen jüdische Menschen und Einrichtungen in erschreckendem Maß wieder zu Tage treten. Eine der besten Waffen, dieser Entwicklung entschieden entgegenzutreten, ist Bildung , Aufklärung, Dialog und Begegnung! Deswegen bin ich froh und dankbar, dass Sie, die Leitung wie auch die Mitglieder der Evangelisch-Lutherischen Jubilategemeinde in Waldperlach, die Ökumene als wichtiges Element Ihres Gemeindelebens betrachten und es entwickeln und erweitern möchten!

In diesen Bestrebungen wünsche ich Ihnen viel Erfolg und Gottes Segen!

Rabbiner Steven Langnas - Beauftragter für Interreligiösen Dialog der Israelitischen Kultusgemeinde München und Gründer des Münchner Lehrhauses der Religionen