Gute alte Rechtfertigungslehre

Sebastian Degkwitz

Liebe Leserin, lieber Leser,

mir geht immer wieder die gute alte Rechtfertigungslehre durch den Kopf, das Herzstück des evangelischen Glaubens: Der sündige Mensch ist gerecht, einfach so, weil Gott ihn um Christi willen annimmt – auch wenn vieles weiterhin gegen ihn spricht. Am 31. Oktober, dem  Reformationstag (und nicht nur an ihm), rufen wir diesen Glauben in Erinnerung.

Wie aktuell ist er noch? Von „Sünde“ redet doch kaum noch jemand. Dabei meine ich, dass unsere Lebensweise viel von Sünde erzählt, davon, wie wir uns vom Quellgrund des Lebens getrennt haben. Täglich lesen wir in der Zeitung, welchen Preis unsere Lebensweise hat, ökologisch wie auch sozial. Und es gelingt uns kaum, das zu ändern (biblisch gesprochen: umzukehren). Also zucken wir mit den Achseln und machen halt weiter wie bisher – paulinisch gesprochen: Wir bleiben in der Knechtschaft der Sünde.

Für mich ist die Preisfrage, was da jetzt „Gnade Gottes“ heißt. Wenn Gott uns so annimmt, wie wir sind, segnet er dann unsere Lebensweise ab? Oder vergibt Gott sie uns und sieht gnädig darüber hinweg, wie wir seine Schöpfung schleifen? Die Gnade würde uns nichts kosten und ein ruhiges Gewissen machen trotz allem, was wir täglich anrichten.

„Ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch fürchten müsstet, sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“ (Römerbrief 8,14.) Ich übersetze die Worte des Paulus: Wer Gottes Gnade empfängt, ist frei von Furcht und lebt angstfrei in kindlich einfachem Vertrauen. Nun fällt mir auf: Die Art, wie wir leben und uns daran klammern, könnte aus Angst geboren sein. Aus der Angst, etwas zu verlieren. Wie wäre es, diese Angst abzulegen; Vertrauen zu haben, dass ich das Leben neu gewinnen kann; die bisherige Lebensweise zu überprüfen? Konsum, Reisen, Verkehr, Wohnen, Garten, Heizen, Energieverbrauch: Das gehört alles auf den Prüfstand. Verzicht könnte an dieser oder jener Stelle anstehen. Warum eigentlich nicht? Was wie Verzicht aussieht, könnte sich als Gewinn entpuppen. Das lehrt uns vielfach die Erfahrung.

Hartmut Graßl, Leiter des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg, hat schon vor 60 Jahren vor dem Klimawandel und seinen Folgen gewarnt. Er hat in einem Interview mal gemeint, er verstehe nicht, warum Menschen vor den Veränderungen Angst hätten. „Mir macht Klimaschutz Spaß“.

Das wäre doch ein guter Ansatz. Es geht um ein furchtloses Leben aus Gnade. Ein Leben, das mit Gott, dem Quellgrund des Lebens, rechnet, deshalb neugierig auf unentdeckte Möglichkeiten ist und Veränderung ausprobiert. Die gute alte Rechtfertigungslehre – sie kann den Blick auf die Gegenwart geradezu öffnen.

Eine gute Zeit wünscht Ihnen
Ihr Pfarrer Sebastian Degkwitz