Eine vierte Brille. Sie stellt das Auge scharf, um Gott zu sehen. Ja, Gott. Ach Gott! Wo bist du zu sehen? Ich wünsche mir Gott so, dass ich sehen kann, wie sich alles zum Guten wendet. Ich wünsche mir einen Gott, der Menschen bewegt, freundlich miteinander umzugehen – und respektvoll mit aller Kreatur. „Dein Reich komme!“ Stattdessen geht es mancherorts und global in ganz andere Richtung. Wo wird Gott sichtbar und spürbar?
In der Weihnachtsgeschichte gibt es Menschen, die haben die Gottesbrille auf: die Hirten. Auch sie leben umgeben von Bestimmern und von Prozessen, die sie bedrängen. Aber sie hüten ihr Feuer und ihre Schafe! Auf einmal haben diese Menschen die Gottesbrille auf. Sie können unverhofft Gott sehen. Warum? Weil ihnen jemand die Augen öffnet. Von sich aus würden sie nicht aus ihrer Umnachtung aufwachen. Von sich aus würden sie Gott nicht sehen. Aber weil die Engel kommen, sind sie bereit, aufzustehen, zu gehen und zu sehen: Mensch, da ist Gott!
Kommen die Engel auch zu mir und setzen mir die Gottesbrille auf? Daran hängt einiges. Wer ist für mich der Engel, der Augenöffner, der auf einmal an meiner Seite ist, der Anstoß, den ich brauche, um alles aus einem anderen Blickwinkel zu sehen?
Die Engel braucht es: die Gottesbrille, die unverhofft auf der Nase sitzt. Ohne diese Brille wäre da nichts Aufregendes zu entdecken. Ein Stall, eine Krippe, ein Baby. Fahrendes Volk, das vorübergehend untergekommen ist und übermorgen wieder weg sein wird. Es braucht die Gottesbrille, den ruhigen Blick auf das Kind, wo rundum sich Bedrängnisse türmen. Es braucht beim Schauen das Vertrauen und die Anerkennung: Ja, der Kleine im Stroh da ist Gott. So will er da sein. So voll und ganz.
Es erscheint kühn, in diesem Kind den ganzen Gott zu sehen. Gott wird Mensch. Warum nur? Die Weihnachtsgeschichte ist ein Haltepunkt (der andere ist das Kreuz), um das zu meditieren: Da in der Krippe siehst du Gott. Die Geschichte ist wohl eine Legende, eine Dichtung, die im Nachhinein Jesu Geburt in Gottes Licht taucht. Eine Geschichte, die jemand so erzählt, weil er die Gottesbrille aufhat. So viele Züge an dieser Geschichte passen zu dem, was Jesus als Mann gesagt, getan und erlitten hat. Zum Beispiel ist da der Wille, sich unters Volk zu mischen, bei den Leuten zu sein, besonders bei solchen, die zu den Kleinen und Übersehenen zählen. Es gefällt Gott, bei diesen Menschen zu sein. Gott ist „bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Das ist seit Bethlehem einer der Gesichtszüge Gottes. Damit ist kein Problem gelöst. Das verschafft niemandem einen Vorteil. Das ist einfach nur: Liebe. Liebe, die für sich steht. Gelebte Solidarität, auf die man sich verlassen kann. Gott ganz im Moment, in dem ich ihn sehe und er mir nahekommt: menschlich, schwach, mit einem Ja zu dieser Menschlichkeit.
Sehe ich in der Krippe wirklich den ganzen Gott? Das kann doch nicht wahr sein! Da fehlt doch soviel. Doch, der ganze Gott ist da. Er zeigt sich, so dass ich ihn sehe und berührt davon bin. Und er zeigt sich so, dass ich immer noch auf ihn warte. Solange das Reich Gottes nicht voll zu sehen ist, gilt die Weihnachtsgeschichte: Gott wird Mensch, damit wir Ja sagen zu uns selbst und den anderen. Diese Spur hat Gott gelegt. Schaut nur hin!
Pfarrer Sebastian Degkwitz